candle-552790_640Die einen lieben es, die anderen hassen es und manch einer lässt es resiginiert über sich ergehen: das Weihnachtsfest. Das Schwierige an Weihnachten ist, dass Menschen gemeinsam feiern, die (von ihren Genen vielleicht abgesehen) nicht zwingend viel gemeinsam haben. Wo unterschiedliche Erwartungen aufeinander prallen, sind Enttäuschungen vorprogrammiert – aber nicht unvermeidbar…

Der 23. Dezember

Es ist wie jedes Jahr: Am Morgen des 23. sitzen Tanja und Bernd eine Stunde lang in der Küche und planen den Einkauf. Weitere 2 bis 3 Stunden ziehen sie – den quengelnden Daniel im Schlepptau – von einem Geschäft zum anderen, um alle Zutaten für die Füllung der traditionellen Weihnachtsgans zu bekommen. Nach einem schnellen Mittagessen steht Tanja dann stundenlang in der Küche und kocht. Bernd und die Kinder hetzen durchs Haus, putzen und beziehen die Gästebetten. Eigentlich müsste Tanja noch Geschenke verpacken, aber das schafft sie nicht mehr vor dem Abendessen, das dauert zu lang. Bernds Eltern überweisen nämlich jedes Jahr einen großzügigen Betrag und alljährlich flötet die weltbeste Schwiegermutter fröhlich ins Telefon, sie solle den Kindern doch „etwas Schönes“ davon kaufen. Tanja würde das Geld viel lieber für die Kinder angelegen, denn eigentlich platzen die Kinderzimmer aus allen Nähten. Aber Oma und Opa schauen doch so gerne in strahlende Kinderaugen und genießen es, zum Dank für ihre Geschenke von den Kindern geknuddelt und geküsst zu werden.

Der Tag vor Heiligabend ist schnell rum. Abends sind Tanja und Bernd so erschlagen vom Einkaufs-, Putz- und Kochmarathon, dass sie sich zu nichts mehr aufraffen können – weder zum Geschenke einpacken, noch dazu, den Tannenbaum zu schmücken. „Ach komm“, sagt Bernd wie jedes Jahr, „lass uns das morgen machen. Die Kinder sollen den Baum doch sowieso erst Abends sehen, dann müssen wir wenigstens nicht in der engen Küche frühstücken.“

Der 24. Dezember

Auch der 24. Dezember rennt viel schneller als erwartet. Was auch – aber nicht nur – an einigen Missgeschicken liegt, die sich wie von Zauberhand jedes Jahr an diesem besonderen Tag zu ballen scheinen: Klein-Daniel fällt ein volles Glas mit Orangensaft erst auf den Schoß, dann auf den Boden. Während Bernd den Knirps wäscht und umzieht, muss Tanja den Fliesenboden dreimal wischen, bis er nicht mehr klebt. Die 12-jährige Linda vergisst mal wieder, den Dackel abzuputzen. Der schüttelt sich im frisch gewischten Flur und hinterlässt seine Schlammspuren, bis sie sich irgendwo im Wohnzimmer auf dem neuen Teppich verlieren. Tanja schimpft, worauf Linda einen pubertären Anfall bekommt, der allen Nachbarn in der Straße klarmacht, wie gemein ihre Eltern sind und dass immer sie alles machen muss. Und überhaupt, sie packt heute gar nix mehr an, das grenzt ja schon an Kinderarbeit.

Jetzt kann sich auch Bernd nicht mehr halten. Er fährt seiner Tochter über den Mund, sie solle nicht so vorlaut sein, jeder habe seinen Teil beizutragen, immerhin müsse er am Nachmittag Oma und Opa aus Bochum und auch die Essen-Oma noch abholen. Im Nu entwickelt sich ein wortgewaltiger Machtkampf zwischen Tochter und Vater, in dessen Verlauf Klein-Daniel lauthals anfängt zu weinen, Tanja sich Jacke und Schlammdackel schnappt und Türe knallend das Haus verlässt.

Sie hat keine Lust mehr auf Weihnachten. Jedes Jahr nimmt sie sich vor, es ruhiger angehen zu lassen und vor der Bescherung noch mit den Kindern in die Kirche zu gehen, egal was der Rest der Familie tut. Jedes Jahr kündigen sich die Schwiegereltern noch früher an, erwartet noch ein Verwandter, dass sie Geschenke besorgt, vergisst irgendwer irgendeine Zutat für den Kuchen oder fürs Abendessen… NIE ist es so, wie sie es geplant hat.

Zwei Häuser weiter sieht sie ihre Nachbarinnen Inge und Petra am Zaun stehen. Die haben ihr gerade noch gefehlt. Sie mag die beiden wirklich gerne. Aber heute… Vormittags um 11 Uhr schon perfekt gestylt und geschminkt, entspannt wie frisch aus dem Yogakurs stehen sie vor ihren weihnachtlich geschmückten Vorgärten – Tanja wünscht sich nichts mehr als ein Mauseloch, in dem sie sich vor den beiden und ihrem Weihnachtsstress verkriechen kann.

Tanja ist völlig durch den Wind. Sie kriegt kaum mit, dass Inge und Petra sie beinahe wortlos unterhaken und in Petras kleine, gemütliche Küche mitnehmen. Sekunden später hält sie einen dampfenden Punsch in der Hand. „Ich geh dann mal“, sagt Inge. „Frohe Weihnachten und lass Dich nicht unterkriegen“, murmelt sie Tanja ins Ohr, als sie sich mit einer kurzen Umarmung von ihr verabschiedet. Tanja fängt an zu heulen.

Nachdem sie sich ausgeweint und ausgiebig über jedes Mitglied ihrer Familie geschimpft hat, geht es ihr ein bißchen besser. „Ich kenn das“, tröstet Petra. „Du?“ fragt Tanja völlig entgeistert. „Gegen mich bist Du Miss Perfect! Ich habe zwei Kinder und kriege nichts auf die Reihe – schon gar nicht an Weihnachten. Du hast drei von der Sorte, bei Dir sieht es immer aus wie frisch gebohnert. Immer bist Du entspannt, sogar an Heiligabend. Und ich könnte wetten, dass Euer Fest nicht halb so verkrampft ist, wie unseres. Ich habe das Gefühl, jedes Jahr wird es schlimmer…“

Wenn das die Tanja wüsste…

„Am Liebsten würde ich zu Hause bleiben.“ sagt Bernds Mutter zu ihrem Mann. „Dieser Stress, diese Hektik. Die Kinder sind immer total überdreht, wenn sie den ganzen Tag im Haus gesessen haben und Tanja…“ „Ach komm“, entgegnet ihr Mann. „Tanja gibt sich immer solche Mühe…“ „Aber das ist es ja grad“, fällt sie ihm ins Wort. „Manchmal meine ich, sie gibt sich zuviel Mühe. Sie stresst sich und jeden um sich herum. Und dann immer diese Geschenkeberge. Als ob es nicht reicht, wenn jedes Kind EIN Geschenk bekommt – die haben doch eh schon alles…“ „Vielleicht feiern wir nächstes Jahr mal bei uns“, sinniert Bernds Vater. „Ich würde auch an Heiligabend gerne mal mit den Kindern in die Kirche gehen…“

Weihnachten – aber anders

„Perfekt?“ lacht Petra. „Bei uns? Gott bewahre! Das habe ich mir abgewöhnt.“ Tanja ist sichtlich irritiert. „Jedes Jahr hatten wir Streit. Entweder Karl und ich oder einer von uns mit den Kindern. Oder die Kinder mit Oma. Die Hälfte von allem, was wir geplant hatten, ging schief oder klappte aus Zeitnot nicht. Oft ist Oma mit den Kindern in die Kirche, während wir auf den letzten Drücker den Tannenbaum geschmückt haben. Oder ich habe alleine geschmückt, während Karl Tante Irmtraud abgeholt hat.“

Petra erzählt Tanja, dass sie sich einmal an Heiligabend fast von ihrem Mann getrennt hat, weil sie sich so alleingelassen fühlte mit den ganzen Vorbereitungen. Der machte ihr dann lautstark klar, dass ihn Weihnachten ankotzt. Das bekam ihre Schwiegermutter mit, die auch ihren Senf dazugab. „Am Ende war es mal wieder zu spät für die Kirche, Tante Irmtraud hatte schon zum dritten Mal angerufen, wo Karl bleibt. Das Abendessen war noch nicht fertig, der Baum noch nicht geschmückt und die Kinder saßen in Neles Zimmer und heulten, weil sich Mama und Papa vielleicht trennen. Meine Schwiegermutter hat die Situation gerettet. Sie hat Tante Irmtraud ein Taxi gerufen und mich und Karl rausgescheucht, damit wir den Kopf klar kriegen. Als wir wiederkamen, war Tante Irmtraud schon da und die beiden hatten mit den Kindern zusammen den Baum geschmückt. Zum Braten gab es Rotkohl aus dem Glas und Baguette, das eigentlich für den Vorspeisensalat gedacht war. Und anstatt zu singen und Blockflöte zu spielen, was irgendwie immer krampfig war, spielten wir Gesellschaftsspiele. Wir haben alles umgekrempelt. Wir feiern zwar nach wie vor bei uns, aber wir haben unsere Ansprüche runtergeschraubt. Schwiegermutter macht Kartoffelsalat, Tante Irmtraud bringt Nachtisch mit. Dazu gibt es Bockwürstchen. Die beiden kommen schon Mittags, dann räumen wir alle zusammen ein bißchen auf und dekorieren. Später gehen die Oma und Tante Irmtraud mit den Kids in die Kirche. In der Zeit machen Karl und ich unseren Weihnachtsspaziergang. Wenn alle zurück sind, liest Nele die Weihnachtsgeschichte vor, dann essen wir und verteilen Geschenke. Und anschließend spielen wir irgendwas, solange jeder mag. Aufgeräumt wird erst am ersten Weihnachtstag – zusammen.“

Nachdenklich ging Tanja nach Hause. Wortlos verzog sie sich ins Bad und ließ heißes Wasser in die Wanne laufen. Als sie nach dem Baden die Kinder fragte, ob es wohl okay sei, wenn sie heute mal ihnen und Opa das Schmücken des Weihnachtsbaums überließe, jubelten die beiden. Oma freute sich, dass sie „ihre“ Geschenke für die Kinder selbst verpacken und so vorher schon sehen konnte. Während sie einpackten, unterhielten sie und Tanja sich darüber, wie sie den Heiligen Abend heute und in Zukunft ruhiger gestalten könnten. Tanjas Mutter half derweil Bernd beim Abendessen. Auch im weiteren Verlauf des Abends packte jeder ungefragt mit an. Irgendein Signal war es gewesen, das allen klar gemacht hatte, dass Weihnachten dieses Jahr anders war.

Auch Traditionen dürfen sich ändern

Traditionen werden von Generation zu Generation weitergegeben, aber sie sind nichts in Stein Gemeißeltes. Werden sie nicht ihrer Zeit angepasst, entwickeln sie sich von haltgebenden Ritualen zu starren Zwängen. Gerade an Weihnachten wollen wir doch, dass JEDER sich wohl fühlt. Darum sollte auch jeder ein Mitsprache- und Mitwirkungsrecht haben.

Als ich Kind war, fand ich Weihnachten in unserer Familie superspannend, alles fand hinter verschlossenen Türen statt und es duftete herrlich. Die Männer schwätzten, die Frauen brutzelten in der Küche. Irgendwann klingelte ein zartes Glöckchen und wenn sich dann die Türe öffnete, blieb einem beim Blick auf den erleuchteten Tannenbaum die Luft weg. Vor dem Baum lagen bergeweise Geschenke. Wir waren ewig damit beschäftigt, diese auszupacken – und oft völlig überfordert. Meine Mutter hat die Geschenkeflut irgendwann eingeschränkt. Und plötzlich blieb mehr Zeit, sowohl um die Geschenke auszuprobieren, als auch für gemeinsames Singen und Musizieren – was ich immer sehr genossen habe.  Als ich selbst Mutter war, habe ich von diesen Veränderungen profitiert – ich musste keine Berge unnützer Geschenke in einem überfüllten Kinderzimmer unterbringen.

Wir haben noch einige Male unsere Rituale verändert, weil sie für den ein oder anderen nicht passten. So wich Hühnerbrust mit Pfirsich, Kroketten und Currysoße jährlich wechselnden Gerichten, die mittlerweile immer auch eine vegetarische Variante beinhalten und die wir alle gemeinsam kochen. Heute feiern wir Weihnachten reihum und jeder beteiligt sich an den Vorbereitungen. Wer in die Kirche gehen möchte, der geht – und nimmt die Kinder mit. Wenns zeitlich nicht passt, dann passt es eben nicht. In die Kirche gehen kann man das ganze Jahr. Gelassenheit hat Priorität!

Nachdem wir ein paar Jahre gewichtelt haben, landeten wir bei der Regel „Es packt einer nach dem anderen aus“. So kann man alle Geschenke sehen und würdigen und sich auch gebührend für die Anderen mitfreuen. Mittlerweile bekommen nur die Kinder noch gekaufte Geschenke. Zusätzlich gibt es ein Familiengeschenk: Jeder bastelt, backt, kocht oder brutzelt irgendwas, das die anderen Familienmitglieder mitnehmen und gemeinsam nutzen können (z.B. selbstgemachte Nudeln, Nachos mit Dip, Gewürzmischung, Eingekochtes). So investiert man Wichtigeres als Geld: Zeit, Liebe, Sorgfalt, Fantasie – und das wissen wir alle zu schätzen.

Manchmal haben wir Familienrituale auch anpassen müssen, weil liebe Menschen von uns gingen und die Rituale ohne sie zu schmerzhaft geworden wären. Oder sie haben sich gewandelt, weil Kontakte abbrachen. Aber ich habe (bis auf 1-2 Ausnahmen, die es gibt, weil das Leben eben auch mal übellaunig ist) Weihnachten immer als schön empfunden. Ich denke, das haben wir der wichtigsten Tradition in unserer Familie zu verdanken, nämlich der, dass wir miteinander reden und offen bleiben für Veränderungen.

Probieren Sie es doch mal aus!

Seien Sie nicht traurig, wenn „Ihr Weihnachten“ nicht mehr das ist, was es einmal war. Rituale sind wie Kleider, manchmal wächst man einfach aus ihnen heraus. Schaffen Sie neue Rituale, in die Sie alle Beteiligten mit einbinden. Was alle gerne machen, kann auch nicht mehr in Streit und Stress enden. Und es bleibt nicht mehr alles an Ihnen hängen. Sollten Sie trotzdem Stress haben, überdenken Sie Ihr Konzept: Oma und Opa kommen doch öfter mal vorbei und wissen, wie es bei Ihnen aussieht. Was ist den beiden wohl wichtiger: Ein entspanntes und harmonisches Weihnachtsfest oder ein Küchenboden, von dem man (dieses eine Mal im Jahr) essen könnte – wenn man wollte…?

Stimmt nicht? Oma und Opa kommen nur zweimal im Jahr und jedes Mal gibt es vorher einen Putzmarathon bis die Bude blitzt? Ignorieren sie das! Sehen Sie souverän über das Chaos hinweg, dann können das andere auch. Alternative: Schenken Sie sich selbst dieses Jahr eine Putzfrau, die am 23. für zwei Stunden bei Ihnen saubermacht.

Probieren Sie auch das: Schenken Sie anders. Verplempern Sie nicht Stunden mit Weihnachtseinkäufen (oder der Suche nach DEM speziellen Geschenk auf google). Verschenken Sie diese Zeit lieber in Form eines Gutscheins (z.B. für Hilfe bei der Gartengestaltung, ein besonderes gemeinsames Essen, einen schönen Ausflug). Machen Sie Geschenke selber – gemeinsam mit Ihren Kindern (oder auch den Schwieger-/Eltern) und haben Sie Spaß daran.

Zeit, Liebe und Aufmerksamkeit sind die schönsten (und nachhaltigsten!) Geschenke, die wir machen können.

© Andrea Wlazik

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