Das Schweigen brechen

Verlorene Jungs“ titelt die TAZ, „Ein Lehrer ohne Skrupel“ das Darmstädter Echo*. Aufgedeckt wird damit einer der größten Missbrauchsskandale nach der Odenwaldschule. An der Elly- Heuss-Knapp-Schule missbrauchte der Lehrer Erich Buß über Jahrzehnte weit über hundert Schüler im Alter von etwa 5 bis 10 Jahren. Einige seiner Opfer versuchten schon früh, sich Hilfe zu holen, scheiterten damit aber bis ins Erwachsenenalter hinein.

*Hinweis: Artikel enthalten Foto des Täters – Triggergefahr!

Elly-Heuss-Knapp-Schule: Das große Schweigen

„Ja wissen Sie denn nicht, was man sich erzählt?“ fragte die Vermieterin entsetzt, als sie erfuhr, dass die Jungs, die in ihrem Haus lebten, sich Nachmittags bei ihrem Lehrer Erich Buß aufhielten. Die so informierte Mutter sprach ihren ältesten Sohn auf die Gerüchte an. Als er sie bestätigte, tat sie die sexuellen Übergriffe als „nicht so schlimm“ ab.

Gerüchte gingen immer rum. Jeder hat ein bißchen was geahnt, manche ein bißchen was gewusst, gehandelt hat niemand. Im Kollegium wollte man es nicht wahr haben, viele mochten den charismatischen Lehrer. Ältere Kollegen misstrauten ihm, berichtet die TAZ, dennoch hinterfragt keiner, was dran ist an den Geschichten. Die Schüler lachen auf dem Schulhof über das Geschlechtsteil des Lehrers, vergleichen es mit einer Cola-Dose, kurz und dick. Auch diese immer wieder auftauchenden konkreten Äußerungen scheinen niemanden misstrauisch zu machen.

Als eines der Opfer, Andreas (der Junge, der auch schon den Mut hatte, seine Mutter zu informieren) sich mit 14 Jahren ein Herz fasst und zur Schulleitung geht, wird er auch dort nicht ernst genommmen. Wie vielen Jungen ein Schicksal wie das seine, bestimmt durch Haltlosigkeit, zerstörtes Vertrauen, Ängste und Selbstzweifel, erspart geblieben wäre, wenn auch nur einer der Erwachsenen, die von den Gerüchten wussten, reagiert und die Polizei eingeschaltet hätte, kann man nicht sagen. Das Gericht ging nach Aktenlage von über 100 Opfern aus, Betroffene sind sicher, dass es mehr gewesen sein müssen.

Das Schweigen brechen

Dazu entschloss sich einer der Betroffenen, der sich Robert nennt. Er suchte andere Opfer und brachte mit ihnen gemeinsam den ehemaligen Lehrer vor Gericht, der ab Mitte der 60-er bis nach seiner Pensionierung im Jahr 1992 immer wieder kleine Jungs vergewaltigte. Leider waren die meisten seiner Taten längst verjährt und so wurde Erich Buß mit 77 Jahren wegen Kindesmissbrauchs in 15 Fällen zu gerade einmal vier Jahren Haft und der Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt verurteilt, in der er 2005 verstarb.

Den Betroffenen reicht das nicht. Sie wollen öffentlich das Schweigen brechen, damit Täter nie wieder derart leichtes Spiel haben. Dafür muss die Öffentlichkeit erfahren, was passiert ist, wo und wie sehr das System versagt hat. Daneben fordern fordern sie eine Entschuldigung durch Schulamt und Kultusministerium. Zudem brauchen alle Opfer eine Anlaufstelle und eine Möglichkeit zur Aufarbeitung, auch die, die sich erst nach Jahren erinnern oder erst spät den Mut finden, sich zu outen. Nach vielen vergeblichen Anläufen hat nun ein erstes Gespräch mit dem hessischen Kultusminister stattgefunden, der seine Unterstützung zugesagt hat.

Anlaufstelle für Betroffene

Nach den Veröffentlichungen in der TAZ und im Darmstädter Echo und ihrem ersten Erfolg beim Kultusministerium brauchen die Betroffenen, die jahrelang gekämpft haben, dringend eine Auszeit. Andere sind eingesprungen und haben eine Anlaufstelle eingerichtet, in Form einer Homepage und eines dazugehörigen Forums als geschützte Kommunikationsplattform für Betroffene. Hierzu zählen sie sowohl die direkten Opfer von Erich Buß als auch deren Familie und Freunde und alle anderen, die vom System Buß betroffen waren.

Nicht nur die Opfer, auch Eltern oder ehemalige Lehrer, die vielleicht eine Ahnung hatten, aber dennoch geschwiegen haben, brauchen einen Ort, an dem sie sich austauschen können. Ebenso, wie die PartnerInnen der Opfer, die unterstützen, mit tragen oder selbst rat- und hilflos sind. Nahe Freunde oder ehemalige Mitschüler wissen plötzlich überhaupt nicht mehr, wie sie mit ihrem Gegenüber umgehen sollen. Für all jene ist die Homepage Das Schweigen brechen mit dem dazugehörigen Forum zur Aufklärung und zum Austausch gedacht.

Im Forum gibt es neben einem öffentlichen Bereich, in dem jeder schreiben und lesen kann und einem nicht öffentlichen „Treffpunkt“ für alle Registrierten jeweils einen geschlossenen Bereich für die Opfer und einen für Angehörige. Inwieweit daneben noch ein geschlossener Bereich für Freunde, Lehrer o.ä. eingerichtet werden wird, soll – wie alles Weitere auch – intern mit basisdemokratischen Mittel entschieden werden. Um jedem die Möglichkeit zu geben, seine Anonymität zu bewahren, wird per Nickname kommuniziert, Realnamen werden nur zur Registrierung benögit und nicht veröffentlicht.

Für die Zukunft ist eine Unterstützung durch eine Traumatherapeutin anvisiert. Ob diese umsetzbar sein wird, hängt hauptsächlich vom Kooperationswillen des Kultusministeriums ab.

Unterstützen Sie Das Schweigen brechen

Ein Flashback (eine besonders intensive plötzlich auftretende Erinnerung) kann eine gefährliche Sache werden, vor allem dann, wenn der Betroffene gerade am Straßenverkehr teilnimmt oder psychisch labil ist.  Ein solcher Flashback kann durch verschiedenste Impulse (sog. Trigger) ausgelöst werden, wie z.B. Gerüche, Bilder oder auch die bloße Erwähnung eines Namens.

Viele direkt oder indirekt von der sexualisierten Gewalt durch den Lehrer Erich Buß Betroffene werden durch die Artikel in der TAZ und im Darmstädter Echo aufgewühlt sein und wissen möglicherweise nicht, wo sie Unterstützung bekommen können. das-schweigen-brechen.org möchte möglichst viele Betroffene erreichen, niemand soll mit seiner Erinnerung, seinen Sorgen und Ängsten alleine stehen.

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Zeigen Sie sich solidarisch: Auf der Facebookseite Elly-Heuss-Knapp: Das Schweigen brechen ist ebenso Platz für Solidaritätsbekundungen wie auch im Eingangsbereich des Forums.

Sind Sie selbst Opfer sexualisierter Gewalt oder kennen ein Opfer, das Hilfe benötigt, finden sie auf der Homepage Das Schweigen brechen Tipps und Adressen von möglichen Ansprechpartnern.

Bitte scheuen Sie sich nicht, das Schweigen zu brechen!

© Andrea Wlazik