Flüchtlinge

Ich bin ohne Zaun aufgewachsen. Die große Wiese, auf der wir als Kinder gespielt hatten, war offen und frei zugänglich für alle. Noch heute bin ich dafür unglaublich dankbar. In der Siedlung, in der ich aufwuchs, war man nie allein. Immer war irgendwer zu spielen draußen und wenn nicht, klingelte man einfach bei irgendwem. Irgendwer hieß Gaby oder Ayshe, Frank oder Ali, irgendwer war manchmal dunkler, manchmal heller. Wir waren wie Schwestern und Brüder, hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Wir hatten eine Menge Spaß und lernten unglaublich viel voneinander, viel mehr als unterschiedliche Essgewohnheiten oder fremdländisch klingende Schimpfwörter.

Vielleicht stört mich deshalb der Zaun so sehr, den aktuell immer mehr Menschen in ihren Köpfen ziehen. Dieser neue und vor allem offen gelebte „Rechtsdrall“ in der Gesellschaft macht mir Angst. Er spaltet Menschen, wertet sie – nicht aufgrund ihres Charakters, ihrer Stärken und Schwächen, ihrer Menschlichkeit oder ihrer Eigenarten wegen. Er wertet Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Sprache, ihrer Herkunft. Er unterscheidet nicht mehr zwischen gut oder böse, er unterscheidet zwischen schwarz oder weiß, zwischen Moslem oder Christ und verletzt mich damit bis ins Mark.

Immer öfter entdecke ich, wie Menschen, die ich bislang für ihre tolerante und offene Art schätzte, sich mit einreihen in die Herde der Schafe, die „Fremd“ blökend wie die Lemminge auf einen Abgrund zulaufen, vor dem man nur schwer abbremsen kann. Manchmal kann ich darüber schreiben. Das hilft mir, meine Angst in den Griff zu bekommen. Manchmal bin ich wie gelähmt angesichts des Hasses und der Boshaftigkeit, die ungeballt in die Richtung unschuldiger und hilfloser Menschen geschleudert wird. Oft möchte ich nur schreien „Aufhören! Lasst sie in Ruhe! Was haben sie Euch denn getan?“ Und oft, z.B. dann, wenn die Lemminge auf Facebook ohne nachzudenken Fremdenfeindliches teilen, verbreiten, streuen wie die Krebszellen, fühle ich mich hundeelend, hilf- und vor allem ratlos.

In einer solchen Situation hilft es mir, mich an Menschen zu halten, die die Gefahr des Rechtsradikalismus und der Verunmenschlichung erkennen, die er mit sich bringt. Dann helfen mir Lieder von Irie Révoltés, deren Texte oder auch Kommentare, über die man im Netz zwischen all der braungefärbten Arroganz oft zufällig stolpert. Texte von Menschen, die mir dermaßen aus der Seele sprechen, schreiben, singen, dass ich mich so erkannt und verwundbar und so unsagbar erleichtert fühle, dass mir beim Hören oder Lesen die Tränen kommen.

Angela B. Garrelds scheint in einer ähnlichen Situation gewesen zu sein wie ich, just zu dem Zeitpunkt, als ich über ihr letztes Posting stolperte. Ich stolperte, las und weinte – vor Erleichterung, dass es noch denkende Menschen gibt, vor Empörung und Zorn darüber, dass Rechts wieder gesellschaftsfähig zu werden scheint und aus lauter Trauer um die Menschlichkeit. Ihren Texten ist aus meiner Sicht nichts weiter hinzuzufügen.

Aufreger am Morgen

Ich wünsche allen meinen Facebook „Freunden“, die wirklich so blöd sind zu glauben, Asylanten würde „alles in den Arsch geschoben“, zwei Jahre in einem fremden Land in einer Auffangstation am Arsch der Welt, zu acht auf 16qm mit Gemeinschaftsbad, ohne jede Chance arbeiten zu dürfen und mit widerlichen Nachbarn, die ausspucken sobald sie das Haus verlassen und die ihre Kinder beschimpfen weil sie dreckige kleine Schmarotzer sind.

Mich KOTZT das an! Euch gehts besser als dem Rest der Welt. Aber Hauptsache der böse Asylant kriegt nichts, was man selbst haben könnte.

Ekelhaft ist das!

Angela relativiert dieses Posting knapp zwei Monate später:

Nachtrag

Unlängst ereiferte ich mich über unreflektiertes Teilen von Asylanten-Bashing-Posts. Und wünschte den Teilern eine Flucht im Krieg mit aller Not, die so dazu gehört. Ich nehme das zurück. Ich wünsche jenen, die derlei Dinge nicht nur teilen sondern das auch noch glauben, Anderes.

Für Euch wünsche ich mir die Lust am Lesen. Für mehr Hintergrundwissen. Für mehr Denkvermögen, damit Ihr nicht alles glauben müsst, was in Großbuchstaben an die Wände geschmiert wird.
Ich wünsche mir für Euch, dass Ihr es schafft, den Neid zu besiegen. Die Missgunst anderen gegenüber, die nur ein kleines bisschen Glück wollen. Nicht mehr. Für sich und ihre Kinder. So wie Du auch. Die arbeiten wollen, aber nicht dürfen. Deren halbe Familie irgendwo sitzt wo ihren kleinen Kindern Maschinenpistolen in die Hand gedrückt werden, während Dein Kind von Dir vor der Glotze geparkt wird, damit Du in der Küche weiter Kette rauchen kannst.

Ich wünsche mir für Euch, dass Ihr lernt. Lernt, dass jeder für sein eigenes Glück verantwortlich ist. Dass es Mut erfordert, neu zu beginnen, etwas zu wagen. Manchmal kostet es diese Leute das Leben. Für Dich wäre es so viel einfacher. Du könntest damit beginnen, den sprichwörtlichen Balken im eigenen Auge zu finden. Und so viel klarer sehen.

Ich wünsche mir für Euch weniger Bosheit, weniger Enttäuschung, die Euer Leben anscheinend mit sich gebracht hat. Weil einfach nur Deutsch sein nicht ausreicht um einen Job, ein Haus und ein dickes Auto zu kriegen. Weil man eben SELBST etwas tun muss. Nicht gegen andere – sondern für sich selbst.

Ich wünsche Euren Kindern, dass sie die Chance bekommen anders zu sein. Die Welt mit offenen Augen zu sehen und auch hinter Fassaden zu schauen. Dass sie lernen, dass man mit Neid nicht glücklich werden kann. Wohl aber damit, selbst Dinge zu erreichen und dann anderen zu gönnen, was sie erreicht haben. Kinder, die differenzieren und nicht verurteilen ohne Wissen.

Und ich wünsche Euch von Herzen, dass die Bild-Zeitung abgeschafft wird. Mir wünsche ich das auch. Sehr.

Die später folgende Ergänzung war es, über die ich stolperte, just als ich nicht mehr wusste wohin mit mir, weil mal wieder fleißig ein solch hanebücherner Unfrieden stiftender Blödsinn verbreitet wurde, dass ich mich fragte, ob der Teiler sich überhaupt eine Sekunde lang Gedanken darüber gemacht hat, was der Schreiber wohl mit diesem Posting bezweckt und dass er sich zum Handlanger von rechtsextremistischen Hetzern macht.

Ich schäme mich

Für jeden, der Flüchtlinge diskreditiert ohne zu wissen, warum sie hergekommen sind. Für jene, die sich mit der gutbürgerlichen Maske der angeblichen Aufgeklärtheit schmücken um dann zu sagen „Ich bin ja kein Nazi – aber…“.

Ich schäme mich für alle Facebooker, die Restaurantbesuche fotografieren und ihre Autos posten. Ihren Schmuck. Ihre Urlaubsreisen, in denen sie nicht einen Tag auskommen können ohne Kontakt zu ihren Familien, Freunden und Jubelpersern. Die ein Posting später unreflektiert teilen, dass Handys für Flüchtlinge unnützer Luxus sind. Weil Menschen, die so dreist sind in unserer Hängematte liegen zu wollen, kein Anrecht haben zu wissen, ob ihre Familie noch lebt. Oder darauf ihrer Mutter zu sagen, dass sie nicht ertrunken sind. Ihren Kindern zu sagen, dass sie sie lieben und so bald holen wie es nur möglich ist.

Ich schäme mich für jene, die täglich bei mir Spenden suchen für Sternenkinder, damit sie in bunten Klamotten beerdigt werden können – um dann Flüchtlinge zu verhöhnen und zu beschimpfen, deren 3-jährige Tochter irgendwo auf dem Ozean über Bord geworfen wurde damit sie aufhört zu heulen.

Ich schäme mich für alle, die Kinder bedrohen, Frauen und Männer – nur weil sie Angst haben, man könne sie an ihnen selbst messen. Und dabei würden viele schlecht weg kommen. Die stolz darauf sind, deutsch zu sein ohne etwas dafür getan zu haben. Weil sie viel mehr nicht können vielleicht.

Ich schäme mich für jeden, der vergessen hat wie unsere Eltern hungern mussten weil ihre Eltern in einen Krieg gezogen oder vor ihm geflohen sind. Ohne Handys. Ohne Möglichkeiten ihre Kinder und Eltern zu hören, zu sehen oder wieder zu finden.

Ich schäme mich für alle, die bemängeln, dass wir Unmengen an Geld für die Unterbringung der Flüchtenden aufbringen müssen. Diejenigen, die laut schreien und doch in dritter Generation von Arbeitslosengeld leben. Oder vom Geld des Vaters, der es von Opa hat, der es sich hart erarbeitet hat nach seiner Flüchtlingszeit.

Ich wünsche mir für Euch Frieden mit Euch selbst. Und dann mit allen anderen. Nein, kein Weltfriedenblabla. Sondern die Ruhe zu akzeptieren, dass Deutsch sein gut ist – aber nicht wichtig. Jeder von uns hat so viel, dass ihn vergangene und kommende Generationen vermutlich darum beneiden werden. Ich wünsche mir, dass wir wieder lernen, dass man etwas davon abgeben kann. Ohne viel Tamtam. Ohne selbst weniger zu haben.

Ich wünsche mir, dass viel mehr vor der eigenen Sozialschmarotzer-, Blaumacher- und Steuerhinterziehertür gewischt wird. Dann wäre Deutschland um einiges sauberer. Und die Flüchtlinge hätten schönere Heimatstädte.

Und immer noch wünsche ich mir, dass die Blöd-Zeitung endlich pleite geht.

Ich schließe ich mich Angelas Worten an und appelliere an alle Facebook-User: Denkt nach bevor Ihr teilt. Überlegt, gegen wen Ihr da schießt. Fragt Euch, wer Euch da grad die Munition liefert. Und ob Ihr wirklich würdet tauschen wollen, immerhin gab es alleine in der ersten Hälfte des Jahres 2015 bereits 150 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte.

Verdienen die Flüchtlinge nicht eher unser aller Respekt und Mitgefühl, unseren Schutz, unsere Hilfe und die finanzielle Unterstützung dieses Landes (das an der weltweiten Kriegstreiberei, der globalen Erwärmung und den Hungersnöten in vielen Ländern ganz sicher nicht unschuldig ist) anstatt Beschimpfungen, Einschüchterung und haltloser Vorwürfe?

Weiterführende Informationen finden interessierte Menschen u.a. in „Fakten gegen Vorurteile“ von Pro Asyl.

Andrea Wlazik
Angela B. Garrelds

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